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Richtlinien für die Gewährung und Durchführung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit

RV d. JM vom 14. Juni 2017 (4511 - IV. 28)
in der Fassung vom 23. September 2022


 

Zu § 53 Abs. 3 StVollzG NRW, § 53 Abs. 3 SVVollzG NRW (Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit) wird Folgendes angeordnet: 

I. Zugelassener Personenkreis

 

1. Strafgefangene

Gemäß § 53 Abs. 3 StVollzG NRW ist insbesondere langjährig im Vollzug befindlichen Strafgefangenen eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren, sofern die zur Sicherung erforderlichen Maßnahmen den Zweck der Ausführung nicht gefährden.

 

1.1

Ausführungen im Sinne des § 53 Abs. 3 S. 1 StVollzG NRW dienen dazu, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges frühzeitig entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit der Gefangenen zu erhalten und zu festigen, wenn vollzugsöffnende Maßnahmen nach § 53 Abs. 2 Nummer 2 bis 4 StVollzG NRW noch nicht verantwortet werden können.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass die Gewährung von Ausführungen nach § 53 Abs. 3 S. 1 StVollzG NRW nicht davon abhängt, dass langjährig inhaftierte Strafgefangene bereits Anzeichen haftbedingter Schädigungen und Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten unter den Bedingungen der Haft zeigen. Vielmehr sind die Vollzugsbehörden verpflichtet, den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs aktiv entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit der Gefangenen zu erhalten und zu festigen.

 

Langjährig inhaftierten Gefangenen sind grundsätzlich Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr kann durch die Begleitung von Bediensteten und, soweit erforderlich, durch zusätzliche Weisungen und Auflagen wie etwa der verhältnismäßigen Anordnung einer Fesselung nicht hinreichend begegnet werden.

 

(Fn 2)

 

1.2

Bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen, die sich seit mindestens vier Jahren sowie

 

bei zu zeitiger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen, die sich seit mindestens fünf Jahren

 

ununterbrochen in Freiheitsentziehung befinden, ist die Gewährung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Rahmen der Vollzugsplanfortschreibung mindestens einmal jährlich zu prüfen und dort zu dokumentieren. (Fn 2) Die Nichtgewährung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit bedarf einer besonderen Begründung.

 

1.3

Die Ausführungen sind in allen Fällen so frühzeitig zu gewähren, dass im Rahmen der anzunehmenden bzw. erwartbaren unterschiedlichen Zeitspannen bis zum Eintreten eventueller haftbedingter Einschränkungen der Gefangenen schon die bloße Gefahr entsprechender Schädigungen ausgeschlossen werden kann. (Fn 2)

 

2. Untergebrachte
In der Sicherungsverwahrung Untergebrachten sind gemäß § 53 Abs. 3 SVVollzG NRW unabhängig von der Dauer der Unterbringung und der vorherigen Strafvollstreckung Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren, sofern keine der gesetzlich normierten Versagungsgründe vorliegen.

 

II. Ausführungszwecke

 

1. Ziele
Mit den Ausführungen wird das Ziel verfolgt, Kultur- und Lebenstechniken einzuüben, sodass sich Strafgefangene und Untergebrachte im Falle einer Entlassung im normalen Leben zurechtfinden können. Die Ausführungen dienen somit der Verhinderung eines unwiederbringlichen Verlusts der Lebenstüchtigkeit außerhalb des Vollzuges (Realerfahrungsfunktion).

 

Darüber hinaus verfolgen die Ausführungen das Ziel, dem Inhaftierten den Wert von Freiheit vor Augen zu führen und hierdurch seine Bereitschaft zur Mitwirkung an notwendigen Behandlungsmaßnahmen zu wecken und zu fördern (Motivationsfunktion).

 

2. Maßnahmen
Maßnahmen zur Verhinderung eines unwiederbringlichen Verlusts der Alltagsfähigkeit bzw. zur Förderung der Mitwirkungsbereitschaft sind zum Beispiel:

  • Aufbau und Stabilisierung tragfähiger sozialer Kontakte
  • Vorsprachen bei Ämtern und Behörden
  • Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
  • Erledigung von Einkäufen, z.B. Kleidung
  • Aktivitäten im Sinne einer sinnvollen Freizeitgestaltung

3. Orte
Unter mehreren in Betracht kommenden Ausführungsorten ist bei gleicher Eignung für die Erfüllung des mit der Ausführung verfolgten Ziels der Ort auszuwählen, welcher im Hinblick auf mögliche Flucht- oder Missbrauchsgefahren eine sichere Durchführung der Ausführung erwarten lässt. Unübersichtliche Orte sind zu meiden. Wird eine Ausführung aus zwingenden Gründen an unübersichtlichen Orten erforderlich, bedarf die Beaufsichtigung besonderer Sorgfalt; die zwingenden Gründe hierfür sind vor Beginn der Ausführung aktenkundig zu machen.
 

III. Genehmigungsverfahren 


1. Vorbereitung und Entscheidung
Über die Gewährung und Durchführung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit wird in einer Konferenz mit den an der Behandlung maßgeblich beteiligten Bediensteten beraten.

Die Entscheidungen über das Ausführungsziel, die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen und Weisungen, den Ausführungsort sowie über die Kostentragung obliegen der zuständigen Abteilungs- oder Anstaltsleitung. Über die Notwendigkeit und die Art einer Fesselung sowie über die Notwendigkeit des Mitführens von Waffen ist nach den Erfordernissen des Einzelfalles zu entscheiden.


2. Überlassung von Gegenständen

Die zuständige Abteilungs- oder Anstaltsleitung entscheidet auch im Rahmen der Erteilung von Weisungen über die Überlassung von Gegenständen sowie die Höhe des für den Ausführungszweck erforderlichen Bargeldbetrages. Die Überlassung von Laptops, Mobiltelefonen, anderen elektronischen Geräten sowie von Bank- oder Kreditkarten während der gesamten Dauer der Maßnahme ist grundsätzlich untersagt.


3. Dokumentation

Das Konferenzergebnis und die tragenden Gründe sind nachvollziehbar zu dokumentieren (§ 100 StVollzG NRW). 

 

IV. Anzahl und Dauer 

 

1. Anzahl (Fn 3)

Die Anzahl der Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit für Strafgefangene steht im Ermessen der Leiterin bzw. des Leiters der Justizvollzugsanstalt und richtet sich nach den Erfordernissen des Einzelfalls. Dabei ist zu berücksichtigen, dass abhängig von der Länge der verhängten Haftstrafe zunehmend häufigere Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren sind.

 

Insoweit sind regelmäßig

 

nach einer Verbüßung von vier Jahren eines zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen und nach einer Haftverbüßung von fünf Jahren eines zu einer zeitigen Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen eine jährliche Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit

 

sowie

 

nach einer Verbüßung von zehn Jahren einer (zeitigen oder lebenslangen) Freiheitsstrafe zweimal jährlich eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit

 

und

 

nach jeder weiteren Verbüßung von fünf Jahren jeweils eine zusätzliche Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Jahr zu gewähren.

 

Die Anzahl der Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit für in der Sicherungsverwahrung Untergebrachte bemisst sich nach den in § 53 Abs. 3 S. 2 SVVollzG NRW niedergelegten Grundsätzen (mindestens viermal jährlich).


2. Dauer
Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit sind hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer auf das am Zweck der Maßnahme orientierte zeitliche Mindestmaß zu begrenzen. 

V. Vor- und Nachbereitung 

 

1. Auswahl und Vorbereitung der begleitenden Bediensteten

Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit werden besonders geeigneten Bediensteten übertragen. Bei der Auswahl der Bediensteten soll möglichst berücksichtigt werden, dass eine Bedienstete oder ein Bediensteter die auszuführende Person kennt bzw. einzuschätzen vermag (z.B. aufgrund einer Tätigkeit auf der Abteilung); eine weitere Bedienstete oder ein weiterer Bediensteter ist in der Weise auszuwählen, dass der auszuführenden Person eine Einschätzung des Verhaltens erschwert wird.

 

Der Ausführungsrahmen (z. B. Ort, Dauer, erforderliche Sicherungsmaßnahmen, Besonderheiten der auszuführenden Person) ist - nach Möglichkeit in einer Konferenz (III. 1.) - mit mindestens einer / einem der die Ausführung begleitenden Bediensteten zu erörtern.

 

2. Vorbereitung der auszuführenden Person; Durchsuchung

Zeitpunkt, Ziel und Ablauf der Ausführung werden mit der auszuführenden Person im Vorfeld besprochen. Soweit dies zur Begegnung von Gefahren notwendig ist, wird der Zeitpunkt der Ausführung ausnahmsweise kurzfristig bekannt gegeben.

 

Vor Beginn und nach Abschluss der Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit ist eine gründliche mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung der auszuführenden Person inklusive der mitgeführten Sachen vorzunehmen;die Entkleidung unterbleibt im Einzelfall, wenn hierdurch die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt nicht gefährdet wird. Ein Absehen von der körperlichen Durchsuchung ist aktenkundig zu begründen.

 

3. Maßnahmen nach Beendigung der Ausführung

Nicht verbrauchtes Geld wird nach der Ausführung dem Konto der auszuführenden Person gutgeschrieben, die Belege über die verausgabten Gelder sind auf Schlüssigkeit zu überprüfen; Unregelmäßigkeiten sind der zuständigen Abteilungs- oder Anstaltsleitung zu melden.

 

Im Anschluss an die Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit fertigt eine / einer der Ausführungsbeamten einen zusammenfassenden aussagekräftigen Verlaufsbericht über die Ausführung, welcher im IT-Fachverfahren BASIS-Web zu dokumentieren und der zuständigen Abteilungs- oder Anstaltsleitung zur Kenntnisnahme vorzulegen ist.
 

VI. Checkliste

 

Die als Anlage beigefügte Checkliste ist Gegenstand dieser Richtlinie und dient der Konkretisierung der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben für die Durchführung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit.


VII. Inkrafttreten

 

Diese RV tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.

 


Fußnoten :

   Fn1: Geändert durch RV d. JM vom 10. Juli 2020 (4511 - IV. 28). Die Änderungen treten mit sofortiger Wirkung in Kraft.

   Fn2: Geändert durch RV d. JM vom 4. März 2021 (4511 - IV. 28). Die Änderungen treten am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.

   Fn3: Geändert durch RV d. JM vom 29. April 2022 (4511 - IV. 28). Die Änderungen treten am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.